LIFE

Die wunderbare Artenvielfalt in sozialen Netzen

Sven Krumrey

Mögen sie Menschen? Also wirklich alle? Wer hier aus voller Brust JA! ruft, den beneide ich wirklich. Ein Freund vertritt die These, dass 50% der Menschheit aus ärgerlichen Individuen besteht, was man natürlich so extrem nicht sehen muss. Kann man aber, wenn man sich in sozialen Netzwerken umschaut. Denn was früher ein Tummelplatz von Nerds war, ist inzwischen ein recht repräsentativer Durchschnitt der Gesellschaft geworden, mit allen Vor- und Nachteilen. Aber man erkennt recht schnell, mit wem man es zu tun hat…

Jemand schreibt in einer Facebook-Gruppe: „Hey, die Bäume schlagen aus, jetzt ist endlich der Sommer da!“

Der Faktenfreak „Nein, der Sommer beginnt erst am 21. Juni, zur Sommersonnenwende. Frag doch einfach Google, bevor Du sowas schreibst.“ Der Faktenfreak hat beim Lesen seines ersten Lexikons noch im Schlafanzug mit den Schlümpfen drauf seinen Humor verloren. Seitdem ist er auf einem Kreuzzug, die Welt mit Fakten zu versorgen und Menschen zurechtzuweisen. Seine Frau verteidigt ihn mit dem Satz: „Andere Männer rauchen!“

Der Fakten-Freak, wie man ihn kennt und nicht liebt

Der Lokalhistoriker „Interessanterweise ist das vergleichsweise spät. Vergleicht man diesen Sommerbeginn mit Anno ´79, so sind wir zwei Wochen später dran, Anno ´66 war es sogar schon Mitte März so warm!“ Sie interessiert das Wetter von gestern nicht? Den Lokalhistoriker schon und viele wunderliche Sachen ebenfalls. Er weiß, wann die Buslinie 2 noch ins Industriegebiet fuhr, warum die Fleischerei am Hauptbahnhof dicht machte und welche Farben früher die Klappen der Mülltonnen hatten. Menschen, die sowas nicht begeistert, sieht er mit verständnisloser Skepsis. Mit Leidenschaft ist er Kassenwart im Heimatverein.

Der AggressiveJa, alles schön mit den Blättern, oder? Zecken gefällig? Und wer darf am Ende das ganze Laub über Wochen von der Auffahrt harken? Wie kann man so verdammt naiv sein????“ Der Aggressive hat vielleicht nur wenige Probleme, aber sein komplettes Leben gehört dazu. Er braucht keinen wirklichen Anlass, sich massiv aufzuregen, das tiefe Wissen, nur von Idioten umgeben zu sein, reicht völlig. Ob es um Streiks, Ladenschluss oder ums Stricken geht, er ist kurz vor dem Platzen der Halsschlagader. Sein Hobby ist das Schreien aus Autofenstern.

Der KontaktsucherSchön, oder? Wir machen jetzt wieder Rollenspiele im Stadtpark, mittwochs ist Elternkreis beim Spielplatz, an jedem ersten Donnerstag treffen wir Oldtimer-Fans uns am Bürgerhaus und falls Du mal Langeweile hast: Hundebesitzer treffen sich täglich am Denkmal und gehen Plauder-Gassi.“ Ob Karate für Katholiken oder Bibeln für Belutschistan, der Kontaktsucher ist dabei. Von wirklich jedem Treffen werden unzählige Bilder gepostet, die zweifelsfrei belegen sollen, dass der Single-Treff „ein wirklich munterer Haufen“ ist. Ist er für Minuten allein, sucht er Chatpartner und berichtet notfalls auch verwirrten Südkoreanern von seinen rastlosen Aktivitäten. Für Außenstehende haben seine Beiträge meist den Unterhaltungswert von trocknender Farbe auf einer Hauswand.

Nicht für eine Sekunde allein - niemals!

Der Private „Ja, zu der Zeit haben Ulla und ich uns auch kennen gelernt. Im Eichenwald gleich bei der Grundschule, ich wäre damals glatt durchgedreht, als ich sie im Sommerkleid sah. Zum Glück ist der Park ja nicht weit gewesen, denn sonst hätte man uns gesehen, wie wir… HAHAHA! Das wollt Ihr doch gar nicht wissen, oder?!?!“ Nein, man will es nicht wissen. Und vieles andere auch nicht, aber der Private wird es uns dennoch erzählen. Obwohl wir ihn nie gesehen haben, kennen wir seine Nachbarn, sein Auto (und dessen Probleme), seinen Job und seine Gartenlaube. Mit Gewalt zieht er den Leser in seinen Kosmos hinein und lässt ihn an seinem Alltag teilhaben. An den Wochenenden hat er seine Auftritte auf Hochzeiten und Geburtstagen als peinlicher Onkel.

Der Politische „Ja, wenigstens das konnten Die Da Oben uns nicht wegnehmen! Bald müssen wir noch Sommersteuer zahlen, wetten? Während die ganzen Sozialschmarotzer in der Sonne liegen und unser sauer verdientes Geld ausgeben!“ Für diesen Zeitgenossen ist einfach alles Politik. Müllabfuhr = Politik, Fußball = Politik und wahrscheinlich auch Umlaufbahn des Saturn = Politik. In seinem grenzenlosen Zorn auf alle, die ein Amt bekleiden und deren dunkle Machenschaften, die sich vor allem gegen ihn persönlich richten, hackt er wortreich auf seine Tastatur ein. Seine Feindbilder sind so scharf wie seine Wortwahl, Andersdenkende sind verblendet, uninformiert und stecken mit Denen Da Oben unter einer Decke. Durch das ständige Kopfschütteln hat er die Nackenmuskulatur eines Bisons.

Der Anders-Sprachige „Babo, wasn Thema! Läuft bei Dir? Voll fett chillig im Park Digger FTW? @Da_Cool_Hool @Denise_Sweetie @Sandro_Bomber“ Der oft junge Anders-Sprachige stellt den unbedarften Leser vor echte Verständnisprobleme. In dem verzweifelten Bemühen, cool zu sein, stückelt er Phrasen aus Songs, Sprüchen, den Abgründen des Privatfernsehens und den Tweets seiner Stars zu einer eigenen Sprache zusammen. Meistens ruft er nach seinen Spießgesellen, die sich ähnlich äußern und dennoch einander verstehen. Faszinierend.

Vielleicht versteht er sich selbst nicht wirklich

Der Skeptische „Der Wetterbericht sagt was anderes! Zu kühl für diese Jahreszeit, eine Schwalbe macht ja noch keinen Sommer! Wird wohl wieder verregnet bis zum Herbst wie letztes Jahr!“ Der Skeptische mag nicht enttäuscht werden und nimmt deshalb immer das Schlimmste an. Selbst ein Weltkrieg hätte etwas Positives für ihn, weil er mit seinen ewig düsteren Prognosen wenigstens recht behalten hätte. Ist etwas wirklich gut, findet er einen negativen Punkt und fühlt sich erneut bestätigt. Er ist im Falle eines Weltfriedens daran zu erkennen, dass er das Schicksal fortan mittelloser Waffenhändler beklagt.

Der Unkonzentrierte „Freut mich auch! Ist Euch aufgefallen, dass die Autos heute größer sind und kaum in die Parkhäuser passen? Wobei es natürlich gut ist, dass sie heute nicht mehr so viele Abgase rauspusten dürfen. Schaut jemand heute Tatort?“ Der Unkonzentrierte ist der Tod jeder Unterhaltung. Selbst wenn man in der Gruppe Herrchen trauern um ihren Hund ist, schafft er keine zwei Zeilen, beim Thema zu bleiben. Sein Geist gleicht einem Schwarm Heuschrecken beim Erdbeben und mit fröhlicher Penetranz bleibt er dabei, bei keinem Thema zu bleiben. Man kann sich kaum vorstellen, wie dieser Mensch ruhig an der Tastatur seine Beiträge schreibt, vielleicht tippt er sie auf dem Fahrrad und jongliert dabei.

Der Humorvolle „Die Bäume schlagen aus? Dann sollen sie mal aufpassen, dass ich nicht zurückschlage!!! LOL!!!“ Der Humorvolle ist davon überzeugt, mit Mutterwitz gesegnet zu sein und ein ansteckendes Lachen zu haben. Mit phänomenalem Scharfsinn spürt er jede noch so kleine Vorlage zu einem billigen Witz auf und verwandelt mit traumhafter Sicherheit. Wer seinen Humor nicht teilt, wird umgehend als Spaßbremse tituliert, die sich mal nicht so haben soll. Kein Thema ist zu ernst, kein Pointe zu alt, um nicht von ihm verarbeitet zu werden. Kann problemlos auch betrunken schreiben, da man keinen Unterschied bemerkt.

Haben Sie jemanden erkannt? Ich nehme an, Sie werden nun genauer hinschauen, wenn Sie in sozialen Netzwerken unterwegs sind. Das ist kein Grund für Zynismus, eigentlich hat sich nichts geändert. Oder wie ein Freund sagte: „Die Menschen sind nicht dümmer geworden, die Doofen haben nur eine größere Reichweite.“

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