Dieses Gesicht kann nur eine Mutter lieben
Würden Sie von sich sagen, dass Sie eitel sind? Ich nicht. Man soll ja in Würde altern, in Harmonie mit sich leben und nicht eitel sein, das sei nur für die Dummen, so lernt man es schon früh. Schaut man aber in Zeitschriften und auf Profilbilder in sozialen Netzwerken, so fragt man sich, weshalb die Leute da so verdammt perfekt aussehen. Wie kann die Nachbarin von gegenüber, die live eher Martin Luther ähnelt, plötzlich einen Hauch Sharon Stone versprühen? Wo ist das legendär üppige Doppelkinn des ehemaligen Arbeitskollegen geblieben? Wieso ist mein alter Ausbilder plötzlich faltenlos? Dann schaue ich auf die eigenen Bilder und merke – irgendwas ist anders.
Man mag heute ja nicht mehr Zeitschriften oder Plattencover betrachten, zu perfekt, zu statuenhaft wirken die abgebildeten Menschen. Solange spindeldürre Models noch weiter per Computer verschlankt werden, läuft einfach etwas falsch. Wer sich alte Bilder von Freddy Mercury, den Stones oder Elton John anschaut, weiß eines – der Mensch ist nicht perfekt, nicht mal ansatzweise. Das sieht alles nach schweißtreibenden Konzerten, nach Zigarettenrauch, kurzen Nächten und schluchzenden Zahnärzten aus, einfach sehr menschlich. Die Stars heute sind pickelfrei, faltenfrei, keimfrei. So denkt man sich das als Mensch mit Geschmack und erliegt dann (jedenfalls kurzzeitig) dem Rausch der digitalen Bildbearbeitung.
Wenn wir Fremd-Programme verkaufen, schaue ich jedes Mal rein, Software macht mir halt Spaß. So auch beim Portrait Pro 12, einem Aufhübschungs-Programm für Leute, die Photoshop eher nervt. Also alles einfach, viel automatische Erkennung und simple Bedienung über Schieberegler. Kenner der Bildbearbeitung, die liebend gerne Stunden an Details tüfteln, werden nun die Nase rümpfen, ich möchte hingegen schnelle Erfolge und fertig. Mögen andere ihre Erfüllung finden, mit 20 Ebenen zu hantieren und aus 100 Filtern den geeigneten zu suchen, ich bin dafür schlicht zu ungeduldig. Bildbearbeitung sollte in einer Werbe-Pause beendet sein.
Erkennen Sie diese Frau?
Lieber starte ich das Programm, öffne ein Bild und – Tada! – es erkennt sogar mein Gesicht als solches. Eine echte Leistung, da ich etwas verkniffen, übermüdet und unrasiert in die Kamera blinzele. Nach zwei weiteren Klicks ist der Moment da, wo ich komplett die Kontrolle verliere – all diese schönen Regler! Wo man sonst Ebenen definieren und sich einen Wolf klicken muss, regieren hier Schieberegler, die Augen vergrößern, Haut bereinigen oder – sagen wir es gerade heraus – das Gesicht wesentlich schlanker machen können. Und nun kommt die Eigendynamik.
Denn es entwickelt sich ein eigenartiger Sog, wenn man das Programm nutzt. Zuerst mache ich ein paar Lachfältchen weg, ziehe das Gesicht minimal schmaler, verleihe der Haut eine etwas gesündere Farbe. Das sieht dann aus wie ich, nur an einem besseren Tag. Doch es gibt ja noch mehr Regler. Wäre dies ein Film, würde jetzt unheilvolle Orgelmusik ertönen und Blitze über den Nachthimmel fegen, denn ein Hauch Frankenstein liegt schon darin. Mit ein paar Klicks erschaffe ich einen neuen Menschen. Der verträumte Weichzeichner-Sven mit den strahlenden Augen. Der markante Testosteron-Sven mit harter Belichtung in Schwarz-Weiß. Der Prinzessinnen-Sven mit Makeup, vollen Lippen und hohen Wagenknochen. Und der Boy George nach der Wurmkur-Sven… Okay, jetzt reicht es!
Oh Gott! OH GOTT!
Schaut man dann vom makellos optimierten Bild zum Original, reift die Erkenntnis: Dieses Gesicht kann nur eine Mutter lieben. Plötzlich versteht man, weshalb man bei Gruppenbildern nie in die erste Reihe soll. Doch halt – bei digitaler Bildbearbeitung verschiebt sich die Wahrnehmung. Es ist nicht real, was man sieht! Und genau das muss man sich immer bewusst machen, wenn man Bilder bearbeitet. Perfektion ist ein paar Mausklicks entfernt, doch sind das dann wirklich wir? Wie weit will man gehen, um anderen (und natürlich sich selbst) zu gefallen? Ich für meinen Teil habe meine Entscheidung getroffen – Falten wieder weitgehend rein, Alter wieder altersgemäß, dezentes Schummeln erlaube ich mir. Okay, zwei Kilo weniger, das habe ich sowieso vor. Dennoch – das bin ich. Sollen andere alterslos und makellos auf ihren Bildern glänzen – wir alle wissen, wie sie das machen.