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Die Geister, die man rief – Mobs im Internet

Sven Krumrey

Stellen Sie sich vor, ein umstrittener YouTuber lädt gerade ein Video hoch. Seine Leitung ist nicht die beste, der Film ist noch nicht verfügbar, aber die Kommentare und Likes sind schon freigeschaltet. Bevor auch nur ein einziger Zuschauer eine Sekunde von dem Video gesehen hat, hat es schon 3000 Daumen runter. Damit wird das Video gleich in der Suche herabgestuft und kaum weiterempfohlen. Was YouTube über Jahre nicht kümmerte, bringt die Macher plötzlich zum Nachdenken, denn nun sind sie selbst betroffen. Sie haben das wohl meistgehasste Video aller Zeiten ins Netz gestellt.

Wenn der Daumen runter zum Problem wird

Was gibt es Schöneres für einen Konzern, als sich zum Jahresende mal so richtig selbst zu feiern? Das dachte sich auch YouTube, wollte auf den Putz hauen und gab einen Jubelfilm mit dem Titel „YouTube Rewind 2018“ in Auftrag. Vorsorglich nahm man mit Will Smith einen waschechten Hollywood-Star unter Vertrag, zeigte die beliebtesten YouTuber gleich im Rudel und unterlegte das Ganze mit fetziger Musik – fertig war die Laube. Dabei haben sie aber die Rechnung ohne die Zuschauer gemacht. Denn die empfanden das Video als geistlos, peinliches Selbstlob und unpassend für einen Jahresrückblick. Und als sich die ersten Dislikes (Daumen runter) sammelten, ging nicht das Video viral, sondern die Gegenbewegung, man wollte es zum schlechtesten Video der Welt küren.

Noch stand Teenie-Schwarm Justin Bieber mit seinem Song „Baby“ an der Spitze der meistgeschmähten Videos, doch schnell sammelte sich ein virtueller Mob quer über das Internet, in allen Foren, Portalen und sozialen Netzwerken wurde Stimmung gemacht. Und siehe da, innerhalb von kurzer Zeit gingen Millionen Daumen runter, bis heute 15 Millionen Mal. Ein PR-Desaster für den Konzern, dessen Chefin Susan Wojcicki sich auch gleich entschuldigte und Besserung gelobte. Zeitlich verdächtig nah folgten dann mehr oder minder offizielle Überlegungen, ob man den Dislike-Button nicht gleich ganz verschwinden lassen möchte, denn hier geht es nicht nur um gekränkten Stolz, sondern um bares Geld. Denn Unternehmen investieren Unsummen, um neue Produkte, wie Filme oder Computerspiele, zu bewerben. Sind diese Videos beliebt und werden sie häufig geschaut, profitieren die Firmen ebenso wie YouTube davon.

Es wird auf YouTube für alles geworben - nicht immer erfolgreich Es wird auf YouTube für alles geworben - nicht immer erfolgreich

Doch diese Werbung läuft immer seltener so, wie man es will. Besonders Firmen oder Interpreten, die umstritten sind, kriegen oftmals die volle Breitseite des Volkszorns ab. Aber wie würde ein Trailer im Kino auf Sie wirken, bei dem massiv gebuht wird? Es ist eigentlich ganz einfach: Wer ein schlechtes Image hat, kriegt den Daumen runter, was auch immer er veröffentlicht. Dass die Nummer drei der Dislike-Rangliste ein Spiele-Trailer ist (Call of Duty: Infinite Warfare Reveal), ist kein Zufall. Spiele-Hersteller wie Electronic Arts oder Blizzard bekommen schon hektische Röte im Gesicht, wenn sie einen Blick auf die Reaktionen zu ihren Videos werfen. Allzu schnell klicken Millionen auf „Gefällt mir nicht“, was nicht nur einen Image-Schaden bedeutet, sondern auch die Verbreitung massiv behindert. Geht der Daumen zu häufig runter, bestraft dies der YouTube-Algorithmus gnadenlos und ordnet das Video unter „nicht sehenswert“ ein. Auch der damit verbundene Account fällt so langsam in die Bedeutungslosigkeit.

Auch wenn YouTube der Schutz Einzelner vor dem Internet-Mob über Jahrzehnte komplett egal war, bei Geld horcht man natürlich auf. Man weiß dort selbstverständlich, dass oftmals umstrittene Geschäftsentscheidungen der Hersteller, mangelhafte Qualität der Produkte oder kontroverse Images der Stars hinter dem Review-Bombing (Abwertungs-Kanonade) stecken, doch was das YouTube-Geschäft stört, muss verschwinden. Projektmanager Direktor Tom Leung veröffentlichte sogar ein Video dazu, in dem er über Abhilfe sinnierte. So könne man Likes und Dislikes einfach ausblenden. Aus den Augen, aus dem Sinn, wenn man so will. Oder man müsse in einer Art Formular begründen, weshalb man das Video abwerte. Das sei mehr Aufwand für den Mob, viele würden wohl so auf das Dislike verzichten. Oder der berühmte Daumen runter solle komplett verschwinden, nur noch das Like wäre verfügbar.

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Ähnliches hört man gerüchteweise auch von Facebook, wo wütende Reaktionen besonders in der politischen Auseinandersetzung inflationär gebraucht werden. Dort wünscht man sich ebenso die Zeiten zurück, als es den Daumen hoch gab – und sonst nichts. Es ist ein Dilemma: Die Portale gieren nach maximaler Interaktion mit den Nutzern, möglichst alles soll man anklicken und kommentieren. Allerdings sollte die Kritik dabei in einem Maß erfolgen, dass man alles schön weiter vermarkten kann und der Betrachter der Videos in Like- und Kauflaune bleibt. Und wenn die Kritiker sich zu sichtbar oder lautstark äußern, blendet man sie eben aus. Schöne neue YouTube-Welt.

Was meinen Sie: Sollte der "Daumen runter" erhalten bleiben?

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