Das Ende der Videotheken
Wie war ihr Sommer? Bei mir ähnlich wechselhaft wie das Wetter! So habe ich zuerst wunderschöne Erinnerungen im Irland-Urlaub gewonnen (was für eine Insel!), danach aber eine Gallenblase im Krankenhaus verloren. Das war natürlich weniger schön. Und wenn man so zerrupft an Körper und Seele auf dem Sofa vegetiert und nichts groß machen kann, liest man doppelt viel. So fiel mir auch eine Meldung ins Auge, die ich sonst wohl übersehen hätte. Meine alte Videothek, in der ich vor Urzeiten mal treuer Stammkunde war, soll ihre Pforten schließen, als letzte ihrer Art im Umkreis. Zeit für einen Abgesang auf einen alten Freund!
Was habe ich mich damals gefreut! Zu mir meiner Konfirmation hatte ich einen VHS-Videorekorder mit 4 Köpfen bekommen, neben dem Computer das Statussymbol des Kinderzimmers. Ich nehme auf, also bin ich! Der Status war schnell eher nebensächlich, denn nun konnte ich endlich alles aufnehmen, was im Fernsehen lief, während ich schlief oder unterwegs war. Doch vor die ersten Erfolge hatten die Götter gehörigen Schweiß gesetzt. Mein Videorekorder war von Mitsubishi und so leicht zu programmieren wie ein Schiff der interstellaren Raumfahrt. Nach den ersten Programmierversuchen hatte ich eine wunderbare Mischung aus Testbildern, Gartenbausendungen und Nachrichten, allesamt natürlich ungewollt. Später kam dann Showview und man musste nur noch einen kurzen Code eingeben, wenn man die Sender in der vorgegebenen Reihenfolge hatte, meine Rettung.
Nach zähem Ringen meisterte ich das Gerät zunehmend, doch schnell wurde klar, wie begrenzt das Fernsehprogramm war. Zwar hatten wir schon Kabelfernsehen, doch wo waren die halbwegs aktuellen Filme? Das große Kino spielte sich zumeist abseits ab und so wurde die Videothek zum großen Sehnsuchtsort. Ob aktuelle Hollywood-Blockbuster, selten gesendete Klassiker oder verfemte Genres wie Action und Horror, der Abend war gerettet, wenn die Ausbeute bei der Videothek stimmte. Selbst meine Großmutter freute sich über ihre Klassiker aus der „guten alten Zeit“. Im Studium wurde die Videothek dann sogar zu meiner Geldquelle. In einer übel beleumdeten Bahnhofsgegend suchte man Personal für den Schalter und ich versah die Nachtschichten, ohne überfallen zu werden. Ein Wunder, das ich mir bis heute nicht erklären kann, vielleicht hatte man einfach Mitleid mit mir.
Als das Internet seinen Einzug hielt, zogen die ersten grauen Wolken auf. Zwar konnte man z.B. mit einem alten 14.4-Modem kaum Filme herunterladen (es sei denn, man wollte damit Wochen verbringen), aber erste Bilder und Animationen zeigten schnell: Was digital ist, kann leicht kopiert werden. Und was beliebt ist, verbreitet sich rasend schnell im Internet. Als das Internet schneller wurde, startete das große Zeitalter der Internetpiraterie. Zum ersten Mal gingen die Umsätze im Bereich Verleih und Verkauf runter, gefolgt von der stillen Hoffnung, die Strafverfolgungsbehörden mögen dem Spuk ein schnelles Ende machen. Schnell merkten jedoch die Behörden, dass die Stärke des Internets für sie von Nachteil war: Es war international, dezentral aufgebaut und anonymer, als vielen lieb war. Ob über die zahlreichen Filesharing-Programme, Systeme wie Usenet oder Filehoster, wo man begehrte Filme komplett laden konnte, die Piraterie wurde immer professioneller.
Die Industrie reagierte leider dümmer, als selbst Skeptiker prophezeiten. Mit absurden Kopierschutzmaßnahmen, die Kenner nur ein Lächeln kosteten, aber ehrliche Kunden bis zur Weißglut reizten, wollte man Raubkopierern Paroli bieten. Dass die meisten Filme schon in den Presswerken oder noch früher kopiert und ins Netz gestellt wurden, vergaß man wohl. Viele DVD Player oder Computerlaufwerke konnten die neuen Datenträger plötzlich nicht mehr abspielen, was die Kunden noch mehr in die Arme der Piraten trieb. Manche Filme verlieh man nur widerwillig und noch unter Vorbehalt, allzu viele Geräte konnten sie wegen des Kopierschutzes schlicht nicht mehr abspielen. Andere Filme kamen erst auf den Markt, wenn sie schon Jahre aus den Kinos verschwunden und von der Masse vergessen waren. Die allgegenwärtigen Tauschbörsen hatten sie oftmals schon brandneu, der Begriff Heimkino bekam eine neue Dimension.
Einen weiteren Vorteil hatten die Illegalen: Man musste nicht mehr das bequeme Sofa verlassen, um die gewünschten Filme zu sehen. Wer sich nach der Arbeit noch durch den Regen zur Videothek quälen musste (um den Film ein, zwei Tage später zurückzugeben), hatte sich sein Entertainment sauer erarbeitet. Mit den schnellen DSL-Verbindungen kam dann das Ende von einer unerwarteten Seite: einer legalen Alternative, dem Streaming. Hier hatte man keine Beratung oder Empfehlungen vom Fachpersonal, die neusten Filme kosteten oft mehr als in der Videothek, dafür konnte man gemütlich hocken bleiben. Zahlte man eine monatliche Gebühr, hatte man vielleicht nicht all das, was man sich wünschte, aber doch ein recht variables Programm, zudem ohne Werbung mittendrin. Mit Netflix, HBO und Amazon Prime gerieten immer mehr Serien in den Mittelpunkt. Früher schnell und billig produziert, werden sie heute immer mehr zum Premiumprodukt. Man kann in ihnen Stories und Charaktere vertiefen und nicht zuletzt den Kunden viele Stunden an den Bildschirm binden.
So rückten Videotheken immer weiter in den Hintergrund, Filiale um Filiale wurde geschlossen. Wo früher Väter jubelnd aus dem Laden kamen und ihrer Familie stolz den heiß begehrten aktuellen Filmhit präsentierten, herrscht heute Tristesse. Die persönliche Beratung, welche z.B. in meiner Videothek immer Ehrensache war, wird heute von mächtigen Algorithmen der Streaming-Dienste übernommen, die sonst immer vergriffenen Wochenend-Angebote zum Sonderpreis bleiben liegen, das Personal pro Schicht wird immer weiter verringert. Einzig in ländlichen Gebieten ohne Internet können sich Videotheken noch unverändert halten, in Großstädten schlagen sich noch die letzten mit Billigangeboten, Erotik und großen Verkaufs-Abteilungen durch. Und so werde ich dieses Wochenende ein letztes Mal die Doppeltüren öffnen und mich durch die thematisch penibel getrennten Abteilungen wühlen. Vielleicht finde ich ja noch eine nette Blu-ray, gehe an den Tresen mit der Kasse und schließe dann ein sehr persönliches Kapitel der Unterhaltungsindustrie.
Was mich interessieren würde: Wann waren Sie das letzte Mal in einer Videothek? Welche Erinnerungen verbinden Sie damit?