LIFE

Pokémon Go – Der Selbstversuch

Sven Krumrey

Wenn die Medien im Übermaß von einem Thema berichten, bekommt man schnell Widerwillen. Das geht mir nicht anders und so beschloss ich schnell, das gerade bis zum Wahnsinn gehypte Pokémon Go als Mumpitz zu verurteilen und mich nicht weiter drum zu kümmern. Es gibt für Chrome schon ein Add-On, das dieses Thema komplett herausfiltert und ich dachte schon daran, es zu installieren. Aber ist es nicht voreilig, über etwas zu urteilen, was man überhaupt nicht kennt? „Zu viele Berichte in den Nachrichten“ ist schließlich kein Argument, das macht kein Spiel besser oder schlechter. Vielleicht wartet der ganz große Spaß auf mich?

Hype oder großer Spaß?

Zur Ausgangslage: Ihr geneigter Redakteur hatte bislang mit Pokémon so viel wie mit Ausdruckstanz zu tun: Ich wusste, sowas existiert - und es ist definitiv nichts für mich. Der Gedanke, ausgedachte Tierchen mit Namen wie Bisasam „zu fangen“, die wie mutierte Katzen mit einer Zwiebel auf dem Rücken aussehen, reizte mich weniger. Da aber Kollegen mit erlesenem Geschmack dieses Spiel lobten und eigentlich jeder Informatiker häufiger vor die Tür sollte, installierte ich das Spiel dann doch. Und es wurde anders als gedacht.

Die Installation auf meinem Android-Handy verläuft problemlos, an besonderen Berechtigungen braucht das Spiel vor allem die Handy-Kamera und den Standort, denn diese Dinge werden noch im Mittelpunkt stehen. Das Spiel beginnt mit einer Warnung: Man möge doch bitte auch beim Spielen auf seine Umwelt achten. Wie wir wohl alle aus den Nachrichten wissen, sind einige Menschen damit schon grob überfordert. Egal, ich passe auf und starte das Spiel. Zuerst erstelle ich eine Spielfigur, die mir null ähnlich sieht, denn ich bin kein asiatischer Teenager. Aber kein Problem, ich habe auch mit Lara Croft gespielt und die war mir auch nicht gerade aus dem Gesicht geschnitten. Als unvermittelt meine Handy-Kamera angeht, sehe ich auf dem Handy-Display ein grünes Tierchen auf meinem Schreibtisch sitzen. Ein Wischer nach oben, es fliegt eine Kugel auf das wunderliche Wesen und – zack – es ist meines. Erinnert mich an mein Wahlrecht mit 18 – ich weiß noch nicht recht, was ich damit anstellen soll, aber schön, dass ich es habe.

Die bunte Welt von Pokémon Go Die bunte Welt von Pokémon Go

Man wird mit ein paar Erläuterungen einfach ins Spiel geworfen, ohne „Pokémon-Vorwissen“ bleibt manches zuerst rätselhaft. So irritiert auch ein erster Blick durchs Programm etwas: Sternenstaub? Eier ausbrüten? Das wirkt recht fremd (und dezent albern) auf mich, aber man findet sich schnell ein. Der Grundgedanke ist, dass man kleine Monster einfängt (indem man mit einem Ball auf sie wirft) und die Tierchen dann weiter entwickelt, bis sie mächtiger werden und dann gegen andere Pokémon kämpfen können. Dafür braucht man besagten Sternenstaub und Bonbons und deshalb – muss man laufen, viele Pokémon fangen und Bonus um Bonus einsammeln. So ist mein erstes Pokémon im Büro auch nur der Anfang. Und der Beginn eines Spielprinzips, nach dem ich bisher nie gespielt hatte.

Das Wesen auf meinem Schreibtisch ist nämlich ein gutes Beispiel für eine Grundidee des Spiels, denn hier wird die Realität (mein Arbeitsplatz) mit dem Spiel (das Pokémon, welches dort eingeblendet wurde) miteinander verbunden. Das nennt sich Augmented Reality und heißt, dass sich auf dem Bildschirm die echte Umwelt (was die Kamera filmt) und die Einblendungen des Spiels miteinander verbinden. Geht man raus, greift sich das Spiel die Daten von Google Maps, das GPS, den Lagesensor und das Gyroskop (Kreiselsensor) des Handys und meine Bewegungen werden zu den Bewegungen der Spielfigur. Gehe ich, geht auch die Figur auf dem Display, Straßen und Häuser sind vereinfacht zu erkennen. Überall sind Pokémon, Kampfarenen und Pokéstops (dort gibt es nützliche Dinge zu ergattern) verteilt und wer gut sein will, muss viel laufen! Also los!

Abends gehe ich dort hin, wohin es ehrbare Informatiker nur selten verschlägtin die Natur. Mit gezücktem Handy pirsche ich durch die Grünanlagen, nur um weitere Menschen mit Handys zu finden, die mich leicht überrascht ansehen. Einer davon ist Thomas, der bislang abends eher vor dem Fernseher saß, wie er gleich erzählt. Man plaudert, gibt sich erste Tipps und geht ein Stückchen zusammen. Ein Blick Richtung Innenstadt zeigt, dass Pokémon Go sich gerade zu einem Massenphänomen entwickelt.Von geschätzt 10 Jahren bis Mitte 50 wandern Menschen umher und sehen sich um, als wäre alles neu für sie. Alle sehr kommunikativ und gut gelaunt. Sicher ruht der Blick dabei gerne auf dem Handy, aber nicht nur – so gehe ich auch durch Straßen, die ich sonst nie gesehen hätte und lerne die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten neu kennen. Ganze Familien, allesamt mit Handys bewaffnet, ziehen kichernd durch die Nacht und scheinen den Spaß ihres Lebens zu haben.

Und plötzlich im Gras: Pikachu

Und auch mich ergreift ein sanfter Sammlertrieb, aus dem zögerlichen Test ist ein vergnüglicher Abendspaziergang unter dem Pokémon-Banner geworden. Zwar stöhnen die Server noch unter der aktuellen Last (wohl niemand hat mit so einem Ansturm gerechnet) und ich werde meine Feierabende garantiert nicht nur mit diesem Spiel verbringen, aber eine nette Alternative ist es allemal. Für viele Menschen werden damit Kindheitsträume wahr (die leuchtenden Augen einiger Kollegen sprechen da Bände), für Späteinsteiger wie mich gibt es immerhin einen Grund mehr, nach der Arbeit noch durch die Gegend zu streifen. Was anfangs eher kindisch wirkt (es ist ja auch ein Kinderspiel) entwickelt einen gewissen Charme und birgt so manches schlaue Detail. So sind z.B. Wasser-Pokémon vermehrt an Gewässern anzutreffen, nachts sind andere Kreaturen als tagsüber zu finden und Eier (ja, die gibt es auch) „brütet man aus“, indem man 5 Kilometer mit ihnen durch die Gegend marschiert.

Was die Presse daraus macht, lässt staunen. Ebenso wunderlich sind die wütenden Postings in den sozialen Netzwerken, die anscheinend im Spiel / den Spielern wahre Hassobjekte gefunden haben. Kürzlich beobachtete ich bei Facebook einen Herrn, der sich in einer Tour beschwerte, dass die Spieler ja nur am Handy hingen, sie seien nur noch Technik-Zombies, dumm und süchtig. Gesendet wurden die ganzen Beiträge – von seinem Handy, na klar. Vielleicht liegt es ja nur am Sommerloch, eine solche Hysterie wegen eines Spiels gab es wohl zuletzt beim Zauberwürfel. Und zugegeben, das Spiel scheint zuweilen Menschen zu überfordern, denn erste Berichte über Spieler auf Beerdigungen, Straßenkreuzungen, in Gedenkstätten und Krankenhäusern ließen nicht lange auf sich warten. Ich behaupte aber: Gäbe es das Spiel nicht, würden sie dort nach Facebook schauen, ein anderes Spiel zocken oder gar Selfies am offenen Sarg machen. Alles schon vorgekommen.

Ich selbst werde auf absehbare Zeit weiter spielen, aber keine Berichte mehr darüber ansehen. Denn im Gegensatz zum wirklich netten Spiel - nervt die hysterische Berichterstattung extrem. Wie sieht es bei Ihnen aus, geben Sie den kleinen Monstern eine Chance?

Bild 2: Giga

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