Binge-Watching – das Ende des bewussten Fernsehens
Kürzlich war ich krank, eine Erkältung hatte mich aufs Sofa gezwungen. Man stellt sich Krankheitstage ja gerne idyllisch vor, mit gelegentlichem Hüsteln, massig Zeit zum Lesen, einem schönen Tee, vielleicht einem alten Lieblingsfilm. Doch die Realität bestand aus brennenden Augen, einer rasselnden Lunge und einem Gehirn, das sich offensichtlich komplett auf die Lebenserhaltung beschränkte. Also nichts mit entspannter Genesung, hier musste massiv Zeit totgeschlagen werden. Was sprach dagegen, entschlossen die Fernbedienung zur Hand zu nehmen und sich eine hochgepriesene Serie am Stück anzuschauen?
Ich entschied mich für Stranger Things, eine Serie, die man liebevoll aus Motiven von „E.T.“, „Gremlins“, „Stand By Me“ und anderen Filmen der Achtziger zusammengebastelt hatte. Und es gab auch nicht viel zu meckern, alles solide gemacht. Man brachte einen feinen Mix von Freundschaft unter Außenseitern, etwas Grusel, schrullige Charaktere, einem Häppchen Humor und einen Hauch „Akte X“. Dennoch merkte ich spätestens bei Folge 3, dass etwas fehlte: das emotionale Mitgehen und die Spannung darüber, wie es weitergehen würde. Musste man früher eine Woche warten, um zu erfahren, ob der Held doch noch überlebt hat (Spoiler: er lebte natürlich weiter) oder die zwei Liebenden zueinander finden, stehen heute komplette Staffeln zum Abruf bereit. Und während ich immer lethargischer mit dem Sofa verschmolz, gingen Handlung und Emotionen zunehmend an mir vorbei. Und welche Rolle spielte nochmal das rothaarige Mädchen? Ach, das war ja tot, ich wusste es nicht mehr. Ich bin halt kein Typ für das sogenannte Binge-Watching.
Binge-Watching (vom engl. Binge = Exzess), gerne Serien-Marathon oder auch Koma-Glotzen genannt, ist ein Phänomen, das sich mit den großen Streaming-Kanälen entwickelt hat. War es früher Kult, wenn im Kino zum „Star Wars-Marathon“ oder zur „Paten-Nacht“ gerufen wurde, steht heute alles und zu jeder Tageszeit digital bereit. Wer sich vier Staffeln Enterprise am Stück zu Gemüte führen will, kann das tun. Die Portale gehen dabei so weit, die nächste Folge automatisch abzuspielen, wenn man nicht eingreift. Man kennt halt seine Kunden. Und so können ein Abend, ein Tag oder eine Nacht zu einem konstanten Dauerglotzen werden. Deshalb werden unter Spezialisten auch Krankheiten oder Urlaube nicht mehr in Tagen, sondern in Staffeln beziffert. Ein Bekannter freute sich sichtlich, gleich mehrere Staffeln von „The Walking Dead“ in seinem Herbsturlaub untergebracht zu haben. Auf seine sonstigen Aktivitäten angesprochen, wirkte er eher wortkarg.
Das veränderte Sehverhalten stellt die Fernsehsender vor große Probleme. Wenn die Kunden nicht warten wollen und ihnen eine Folge am Stück nicht genug ist, wenden sie sich anderen Medien zu. Und wer hat noch Lust, auf eine bestimmte Uhrzeit zu warten, um seine Serie zu sehen? Einige Sender steuern mit Online-Angeboten dagegen und fügen jede Woche die neuste Folge hinzu. Doch sie tun sich schwer mit der Erwartungshaltung der Zuschauer, die gewohnt sind, alles sofort zu bekommen. Auch Netflix selbst hat damit seine Probleme, denn der Hype um eine neue Staffel endet allzu schnell. Erscheint die Staffel, dauert es nur ein paar Tage, bis sie durchgeschaut und im Internet diskutiert wurde - womit sie schon wieder Vergangenheit ist. Die Fans wollen immer Nachschub. Als bekannt wurde, dass die neue Staffel von „Game of Thrones“ erst 2019 erscheint, hing die Ashampoo-Flagge eine Woche auf Halbmast. Schon wurde diskutiert, welche Ersatzserie man dafür schauen könnte. Sind Wikinger ein adäquater Ersatz für Drachen?
Die nächste Staffel steht schon in den Startlöchern
Netflix verfolgt natürlich genau, was die Zuschauer ansehen, so kommt auch Verblüffendes zutage: Ein Enthusiast schaute 2017 an 261 Tagen den zweiten Teil der „Herr der Ringe“ an, ein anderer guckte schlicht jeden Tag „Fluch der Karibik“, beides immerhin Filme mit Überlänge. Auch Menschen mit Liebeskummer neigen zur gepflegten Sucht, die Schnulze „A Christmas Prince“ hat seit dem Erscheinen im Dezember 53 tägliche Stammzuschauerinnen. Da kommen schnell die 140 Millionen Stunden Serien und Filme pro Tag zustande, mehr als eine Milliarde Stunden in der Woche!
Das USC Institute for Creative Technologies hat kürzlich in einer Studie herausgefunden, dass mehr als 60 Prozent der Amerikaner dem Binge-Watching frönen und es tritt auch seinen weltweiten Siegeszug zusammen mit den Streaming-Portalen an. Je jünger, desto höher ist der Prozentsatz an Dauerguckern. Dabei nehmen die Zuschauer immer weniger wahr, wie australische Forscher herausfanden. Unser Gehirn ist nicht auf die Masse von Informationen eingestellt, die man z.B. in 5 Folgen hintereinander präsentiert bekommt. Würde alles auf Wochen verteilt gesehen, könnte man sich an viel mehr erinnern. Auch die Emotionen, die in den Zuschauern geweckt werden, dieses Mitfiebern, Hoffen und Bangen, verflachen mit zunehmender Dauer. Und seien wir ehrlich: Sozial aktiver oder gesünder macht dieser Lebensstil auch nicht!
Ich glaube, ich lade mal wieder Freunde ein. Dann schauen wir einen besonderen Film zusammen, essen Mikrowellen-Popcorn und Nachos, trinken ein Gläschen und tauschen uns über den Film und das Leben aus. Das war schon gut, als noch überall Videotheken geöffnet waren und wird es heute wieder sein. Und wenn eine neue Serie herauskommt, werde ich sie gut verteilt über Wochen schauen. So, wie man einen guten Wein nicht in sich hineinschütten soll, haben auch gute Serien meine volle Aufmerksamkeit verdient – und keinen Scheintoten auf dem Sofa.
Was mich interessieren würde: Ertappen Sie sich auch dabei, gleich mehrere Folgen am Stück zu gucken? Was halten Sie von dieser Art, seine Freizeit zu verbringen?