TikTok: Eine Milliarde Nutzer, doch kaum Kritik?
Stellen Sie sich vor, dass eine App so beliebt wird, dass sie für Abermillionen Kinder und Heranwachsende das Medium Nummer 1 wird. Mit kurzen Filmchen und den Funktionen eines sozialen Netzwerks erreichte TikTok 2019 weltweit die Spitzen der Download Charts und ließ sogar WhatsApp hinter sich. Das Unternehmen selbst sieht seine Nutzer als spaßige und kreative Gemeinde, kritische Inhalte seien eher selten. Datenschützer und Journalisten wittern jedoch Zensur, mangelnden Jugendschutz und den langen Arm der chinesischen Regierung. Das Unternehmen sieht erste Fehler ein und kämpft um das Vertrauen.
Zuerst: Der Reiz von TikTok scheint sich den meisten Erwachsenen nicht zu erschließen, mir auch nicht. 15 Sekunden-Videos mit lippensynchronem Playback, Tanz oder kleinen Sketchen reißen den nüchternen Betrachter kaum vom Sessel. Man wählt Musik oder eine Soundspur aus, nimmt dazu etwas mit der Handy-Kamera auf und veröffentlich es dann über TikTok. Die Hauptleistung der App ist das Bereitstellen der Infrastruktur und eine große Sound-Bibliothek. Nicht gerade innovativ, oder? Dennoch haben mittlerweile mehr als eine Milliarde Kinder und Jugendliche die App installiert und präsentieren sich in kurzen Filmchen, schreiben einander und sehen die Nachrichten der anderen. Mit einer Mischung von einfacher Bedienung, modernem Design und der Werbung durch viele einflussreiche Influencer erreicht die Firma dahinter, ByteDance, Miliardenumsätze.
Je jünger, desto unreflektierter stürzen sich die Kinder in die bunte TikTok-Welt. Schnell kann man hier Follower sammeln, sich wichtig und akzeptiert fühlen. Dabei fallen mangelnder Daten- und Jugendschutz nicht groß ins Gewicht. In diesem Jahr musste das Unternehmen 5,7 Millionen US-Dollar Strafe zahlen, da sie personenbezogene Daten von Kindern unter 13 Jahren gesammelt hatten. 2018 machten Behörden vermehrt Druck, weil Pädophile sog. Cybergrooming betrieben, also Kinder belästigten und zu sexuellen Praktiken animierten. Diese Verbrecher gaben sich als Gleichaltrige, Autoritäten (Lehrer, Polizisten, etc.) oder Musik-Manager aus und versuchten, Kinder für ihre Zwecke zu manipulieren. Nach massiver Kritik baute man ein Meldesystem ein, Nutzer können nun bei falschem Verhalten gesperrt werden, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Dass TikTok Daten direkt an eine chinesische Analysefirma schickte, bis die Weltpresse Druck machte, interessierte die jungen Nutzer null. Es macht halt Spaß!
Natürlich sind nicht alle Videos positiver Natur und genau hier hatte TikTok schon früh Probleme. Denn wer über die Plattform schimpfte oder Konkurrenten wie WhatsApp nannte, konnte sich gleich von größerer Verbreitung verabschieden. Nur wer „konstruktive Kritik“ lieferte, konnte mit Gnade rechnen. Doch wie konstruktiv und behutsam argumentieren Kinder, wenn ihnen etwas nicht gefällt? Offiziell habe man so nur „Fehlinformationen vermeiden“ wollen, dieser Ansatz sei aber aufgegeben worden. Wie kann man so mit der Meinungsfreiheit umgehen? Ein großes Problem stellen hier die Moderationsrichtlinien dar, die (positiv ausgedrückt) vielseitig interpretierbar und nicht sonderlich umfangreich sind. Müsste ein solcher Multimilliarden-Konzern eigentlich nicht ausführlich und bombensicher definieren, was man quasi unsichtbar macht oder gar ganz zensiert? Wie steht es mit der Neutralität TikToks?
Dabei sollte man sich keine falschen Vorstellungen machen, eine dermaßen beliebte App kann niemals gänzlich unpolitisch sein. Im September berichtete der Guardian über geleakte TT-Dokumente, die klar zeigten, wie Äußerungen zum Tiananmen-Massaker oder der Unabhängigkeit Tibets zensiert wurden. Die Entwickler sehen das natürlich anders. Man äußert sich explizit dazu, dass z.B. auch die Hongkonger Proteste nicht herabgestuft würden, doch wie glaubwürdig ist dies von Beijing Bytedance Technology, Sitz in Peking? Was könnten sie auch sonst schreiben, ohne weitere Nackenschläge von den internationalen Medien zu bekommen? Machen wir uns nichts vor: Sollte TikTok zu einem Medium werden, auf dem sich massiv China-feindliche Kräfte sammeln und viele Videos zu kritischen Themen erscheinen, so würde die Regierung in Peking das nicht mit einem Schulterzucken hinnehmen.
Wenn von Zensur geredet wird, muss dies nicht in der klassischen Form einer kompletten Löschung erfolgen. Ebenso effektiv (und schwieriger nachzuweisen) sind verringerte Reichweiten. Wie auch bei YouTube oder Facebook werden Videos empfohlen, wenn die Algorithmen sie für geeignet halten. Wer eine bestimmte Musik mag, einen Filmstar oder ein Hobby, wird auch weitere Videos dieser Art empfohlen bekommen. Ist ein Video nicht genehm, kann TikTok natürlich der Betreiber dieses Video herabstufen und seltener / gar nicht empfehlen. Selbst die Videosichtbarkeit beim direkte Aufruf kann verringert werden, im Extremfall bis zu dem Punkt, an dem nur noch der Ersteller das Video überhaupt sehen kann. Ähnliches wurde unlängst bekannt, als Videos von Menschen mit Behinderungen, starkem Übergewicht oder einem extremen Äußeren praktisch unsichtbar wurde. Bevor es Ärger / Mobbing geben könnte, senkt man lieber die Verbreitung, um des lieben Friedens Willen. So zensiert man nicht im Wortsinne, unerwünschte Inhalten bekommen dennoch keinerlei Verbreitung. Mehrere Zeitungen machten daher die Probe aufs Exempel und suchten nach Inhalten, die in China nicht gerne gesehen sind, so z.B. nach Falungong oder Tiananmen. Man fand wenig bis gar keine Inhalte, niemand hielt dies für einen Zufall.
Die Gesetzeslage ist dabei eindeutig: Einheimische Unternehmen müssen mit den chinesischen Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten, wenn dies von ihnen gefordert wird. Die Moderation sitzt zwar international verteilt in unterschiedlichen Ländern, ein großes Team ist jedoch in Peking beheimatet, auch für nicht-chinesische Sprachen. Viele Datenschützer und Freunde von Bürgerrechten sehen schon in Europa und den USA zu geringe Hürden für den Zugriff auf Nutzerdaten, die chinesische Rechtslage tanzt jedoch noch locker unter diesen Limbostangen hindurch. Und seitdem mehrere Milliardäre aus dem Verkehr gezogen wurden, darunter die bestbezahlte Schauspielerin Chinas und der ehemalige Interpol-Chef, weiß jeder, dass niemand vor einem Zugriff gefeit ist. Wer könnte es ByteDance Gründer Zhang Yiming und seinen Mitarbeitern unter diesen Umständen verübeln, wenn sie sich mehr als kooperativ verhielten, sobald die Behörden rufen?
Und so präsentieren sich die meisten Clips auf TikTok, wie es viele Regierungen von der Jugend wünschen: unpolitisch, konsumierend und wenig kritisch. Und so gebetsmühlenartig die Pressemitteilungen auch Neutralität verkünden, die Protestbewegungen bleiben auch TikTok auch weiterhin seltsam unterrepräsentiert. Während sich auf Triller, Dubsmash, Weishi, Kwai, Lasso, WhatsApp und Snapchat kritische Inhalte zu Politik, Umwelt und sozialen Thematiken in Massen finden lassen, singen und tanzen die TikTok-Nutzer Iffensichtlich lieber. Doppelt umstritten ist daher, dass gerade jetzt viele Firmen und Medien auf den TikTok-Zug springen und dort eigene Kanäle anbieten. Gibt man einem sowieso zweifelhaften Medium so noch mehr Wichtigkeit oder kann man so effektiv gegensteuern?
In einer Erklärung am 23.11.2019 erklärte TikTok: „TikTok moderiert keine Inhalte basierend auf politischen Angelegenheiten oder Sensitivitäten. Unsere Moderationsentscheidungen werden von keiner ausländischen Regierung, auch nicht der chinesischen Regierung, beeinflusst. Wir entfernen oder stufen keine Videos von Hongkonger Protesten herab und auch nicht von Aktivisten.“ Genau das werden sie beweisen müssen, um die Kritiker weltweit verstummen zu lassen.
Was mich interessieren würde: Halten Sie die Aussagen von TikTok für glaubwürdig?
Redaktionelle Beratung: Petra Schwarze