LIFE

Fremde Welten auf Youtube

Sven Krumrey

Ich mag ja Youtube. Mit recht wenig Werbung bekommt man eine Fülle an Informationen, Musik und lustigen Filmchen geboten. Neben all den Profi-Clips und Dokus sieht man aber auch jede Menge Hausgemachtes, denn Youtube lebt ja auch vom Mitmachen. Und so möchte ich Ihnen einige dieser fleißigen Filmer vorstellen, die Ihnen so oder ähnlich über den Weg laufen können.

Giganten des Lokalsports auf Youtube

Der Lokalsportler

Der VfL Brondenbach* ist ein Gigant der Provinz, nur einen Hauch von internationaler Spitze entfernt. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man auf Joachims* Youtube-Channel gewinnt. Wenn die elf Recken seiner Mannschaft etwas hüftsteif aufs Feld traben, ertönt die Musik von Gladiator, der Live-Kommentar überschlägt sich, sobald die Mittellinie überschritten wird. Und auch, wenn manche Spieler laufen, als hätten sie keine Kniegelenke, Joachims Freude ist ansteckend. Denn während ein Stürmer in Live-Zeitlupe zum Kopfball ansetzt, übersteuert schon sein Mikro vor Euphorie. Und ganz ehrlich, irgendwann ist man selbst begeistert, wenn die Spieler nach einem hart erkämpften 2:1 beim Bier interviewt werden. Wo der Profi-Sport wie eine polierte Choreographie wirkt, steht hier noch das wahre Leben inklusive unerklärlicher Formschwäche nach dem Schützenfest im Mittelpunkt. Klasse!

Der Familienmensch

Familie ist etwas Wunderbares, was liegt da näher, einfach alles mit Kamera aufzunehmen? Und während mancher für sein Recht auf Privatsphäre kämpft, oder bei Google Streetview sein Haus verpixeln lässt, lädt uns Familie Howard* in ihr Leben ein. Ein Monat im Kalender sind, grob geschätzt, 3 Stunden Dokumentation eines Vorstadtlebens. Und während Frau Howard fröhlich über die Probleme ihrer Menstruation spricht, lasse ich meinen Löffel mit dem Müsli doch kurzzeitig sinken. Auch Redakteure haben ihre Grenzen! Höhepunkte des Monats: Reggie* fällt wie ein narkotisiertes Faultier vom Dreirad und der kleine TomTom* geht das erste Mal alleine aufs Töpfchen, begleitet von den Jubelrufen seiner Eltern. Applaus!

Heute im Konzert - morgen auf Youtube

Die Live-Reporterin

Hanna G.* hat ein geladenes Handy – und sie wird es benutzen. Und nicht irgendwo, sondern beim Konzert ihres Lieblingssängers. Über Youtube wird die Welt Zeuge und lernt einige Dinge ganz schnell: 1.) Handy-Mikrofone sind nur sehr bedingt für 100 Dezibel geeignet. Sobald ein Song beginnt, lauscht man einem übersteuerten Brüllrauschen, das daheim fast die Boxen zerlegt. 2.) Hanna G. ist nur sehr bedingt zur Kamerafrau geeignet, denn die dürfen nicht tanzen und jauchzen. Derweil der Autofocus verzweifelt sein Ziel sucht, wedelt sie ekstatisch mit den Armen - und natürlich mit dem Handy. Während der Betrachter am PC mit leichter Übelkeit und Desorientierung kämpft, ertönt in einer Song-Pause der unvermeidliche Satz „Nimmst Du das alles auf? Cool!“. Geht so.

Der Verschwörer

Es ist nichts so, wie es scheint, John C.* weiß das. Und während er mit Schlips und Kragen in seinem Büro sitzt, stellt er sich (und damit uns) eine wichtige Frage: „Werden die Echsenmenschen bei den Illuminaten von den Behörden unterwandert?“ Genau das fragen wir uns wohl alle. Und während mein Blick auf die Poster hinter ihm (erinnern leicht an Akte X) fällt, wird mir klar, dass es dieser Mann sehr ernst Ieint. 20 Minuten lang erfahre ich alles über Chemtrails, Verschwörungen innerhalb von Verschwörungen, Außerirdische mit leichtem Übergewicht (sehen jedenfalls etwas moppelig um die Hüften aus) und den Umstand, dass George Bush jun. seine Form und Farbe verändern kann. Damit hätte er doch manche TV-Debatte erheblich aufpeppen können! „Wenn sie mich wählen, bin ich die komplette Legislaturperiode lila!“

So natürlich, wie Models halt sind

Die Schöne

Jenny* ist wirklich hübsch. Da sieht man und das weiß sie. Vielleicht hat sie von Mariah Carey gehört, dass eine Frau nur eine Schokoladenseite hat (eventuell hat sie auch drei Ohren auf der anderen Seite- keine Ahnung), jedenfalls zeigt sie sich nur von rechts. Und da sie schon viele Models im Fernsehen verfolgt hat, versucht sie sich auch wie ein Model zu bewegen. Weil sie sich bei allerlei Aktivitäten filmen lässt (Fahrradfahren, bei der Gartenarbeit und beim Tanzen), entwickelt sich eine hypnotische Wirkung auf den Betrachter. Kann man elegant, stylisch und ohne den Kopf zu drehen z.B. Rosen schneiden? Antwort: Nein, das sieht alles höchst seltsam aus, als sei ein unbegabter Marionettenspieler am Werk. Und irgendwie wünscht man sich, Jenny hätte ihre Jugend ohne Internet, Modezeitschriften und Modelshows verbracht, sie wäre wohl glücklicher.

Der Heimwerker

Menschen etwas zu erklären, ist ja auch ein Teil meines Jobs, allerdings werde ich dabei wohl nie den heiligen Ernst wie Herbert* haben. Herbert liebt das Handwerken und erklärt dabei, was er macht. Langweilig? Nicht bei Herbert. Denn hier wird jeder Winkelschleifer wie eine Reliquie vor die Kamera gehalten und bei seiner Aussprache von Reduziernippel liegt sogar ein Hauch Erotik in der Luft. Hier liebt jemand, was er macht und lässt uns alle dran teilhaben. Er redet zwar beim Bohren einfach weiter und stolpert häufiger über Gerüste oder Farbeimer, aber das stoppt nicht den meditativen Redefluss. Und nach einer halben Stunde denkt man: „Wenn mich mal ein Mensch anschauen würde, wie Herbert seinen Gesteinschneider, das wäre echt die große Liebe.

Manche Spiele sind einfach zum Schreien

Der Spieler

Sogenannte Let´s Plays erfreuen sich großer Beliebtheit. Man sieht idealerweise einem redseligen, witzigen Menschen zu, wie er ein gutes, spannendes Spiel zockt und entsprechend kommentiert. Und dann gibt es Jake*. Jake ist anscheinend eher schüchtern und gruseligen Spielen definitiv nicht gewachsen. Und so mag man den Blick kaum abwenden, wenn wieder und wieder Jakes schrille Schreie ertönen, er sich vor Schreck an Getränken verschluckt oder halb vom Stuhl fällt, als hinter einer Tür ein Monster lauert. Sein ersticktes Mommy! wäre beinahe mein neuer Klingelton geworden. Ein Blick auf Jakes Channel – das Spiel geht über 7 Stunden! Und so schaue ich mal in das letzte Video hinein, ob er sich inzwischen besser in das Spiel eingefunden hat. Schon in Sekunde 17 – die Mutter aller Schreie! Und da sah ich mich gezwungen, etwas zu tun, was ich sonst nie mache, zu kommentieren. Ich nannte einige neue Spiele, in denen er sich garantiert nicht erschrecken muss, er solle da mal reinschauen. Bleib stark, Jake!

*Namen wurden geändert, da ich mir nicht immer sicher bin, ob diese Menschen bekannt werden wollen oder sollten.

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