LIFE

Lagern wir unser Gehirn langsam aus?

Sven Krumrey

Geständnisse an der Wursttheke sind ja eher ungewöhnlich, aber kürzlich hörte ich eines. Eine Dame flüsterte (verblüffend laut) ihrer Freundin zu, dass sie genau noch eine Telefonnummer aus dem Kopf kenne. Den Rest kenne nur ihr Handy, einzig die eigene Nummer sei immer parat. Während ich langsam in der Schlange vorrückte, dachte ich nach und kam auf sieben Nummern, immerhin. Und mein Langzeitgedächtnis funktionierte, Schillers Glocke konnte ich noch, das beruhigte mich. Eine Frage aber blieb: Was wüsste ich wirklich ohne digitale Hilfsmittel?

Der ständige Blick zum Handy

Als ich klein war, musste vieles auswendig gelernt werden. Goethe, Schiller und Lessing, kleinere Gedichte und viele, viele Daten der Zeitgeschichte. Unsere Lehrer verkündeten mit dem Brustton der Überzeugung, nur so sei das Gehirn leistungsfähig und gesund. Heute nimmt uns die Technik vieles ab. Ob Wegstrecke, Adresse, Öffnungszeiten oder Telefonnummern, alles ist gespeichert und abrufbar. Welche amerikanischen Präsidenten regierten während des Vietnamkrieges? Die Antwort ist eine 10 Sekunden-Suche entfernt. Die Prioritäten verlagern sich für viele Menschen: Früher musste man etwas wissen, heute zählt eher der Weg und wie man schnell suchen kann.

Erfährt man heute etwas neu, ist oftmals die Motivation geringer, es sich wirklich zu merken. Fürchtete man früher, dass Wissen verloren ginge oder mühselig neu beschafft werden müsse (z.B. mit einer Fahrt zur Bibliothek), erledigt sich das im digitalen Zeitalter. Es geht also auch um die Frage, ob man sich weniger merken kann oder weniger merken will. An der Columbia Universität machte man dazu einen Test. Man ließ Menschen 40 interessante Aussagen abtippen. Der einen Testgruppe sagte man vorher, der Text werde danach gelöscht, die andere Gruppe wusste nichts davon. Ergebnis: Die Gruppe, die nichts vom Löschen wusste, erinnerte sich später bei einer Befragung kaum an etwas. Sie hatte dem Computer als erweitertem Gedächtnis schlicht vertraut. Die andere Gruppe wusste viel mehr, sie wollte es sich einfach merken.

Nichts geht über gemeinsames Erleben Nichts geht über gemeinsames Erleben

Dies wirkt sich auch auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Wer früher um Rat fragen musste, oder gar Spezialwissen von Freunden und Verwandten brauchte, kann heute die Suchmaschine anschmeißen – oder sich gleich ein Video auf Youtube anschauen. Ob Reparaturen, Kochrezepte, Gesundheit oder Kosmetik – alles ist hundertfach vorhanden. Viele Menschen bemühen nicht mal mehr ihr Gedächtnis, wenn sie etwas nicht sofort wissen. Wieso grübeln, gut raten oder mühsam logisch herleiten, wenn ein Blick ins Internet schneller geht? Manche Paare müssen extra Vereinbarungen treffen, um beim Restaurantbesuch das Handy aus der Hand zu lassen. Sie sind es gewohnt, dass Google schnell alle Fragen beantwortet.

Fragt man Psychologen, wird das Langzeitgedächtnis durch Wiederholung und intensive Nutzung gestärkt. „Use it or lose it", (Nutze oder verliere es) heißt das Motto. Brauchen wir aber unser Langzeitgedächtnis nur, wenn Stromausfall ist oder man gerade keinen Empfang hat? Nein, denn unser Wissen und unser Urteilsvermögen basieren auf dem, was wir dauerhaft im Geiste parat haben, da zählen keine verfügbaren Google-Suchergebnisse. Auch der Orientierungssinn will trainiert werden, mit dauernder Nutzung des Navigationsgeräts bleibt er beschäftigungslos. Mäuse, die in einem kleinen Wagen durch ein Labyrinth gezogen wurden, konnten sich den Weg schlechter merken, als die Tiere, die den Weg selbst finden mussten. Das Gehirn will halt vielseitig gefordert werden.

Hirnforscher wie Prof. Manfred Spitzer befürchten in diesem Kontext auch gleich fatale Folgen für das Lernen mit digitalen Medien. Er entwirft das Bild einer abgelenkten, unterentwickelten Jugend, der die geistige Arbeit abgenommen und der etwas vorenthalten werde – praktisches Erleben. Auch das Schreiben per Hand, was beim Tippen entfalle, sei essentiell für den Lernprozess. So gruselig die Erinnerung an meine vollgeschriebenen Vokabelhefte auch sein mag - diese Argumentation ist nachvollziehbar. Ob Prof. Spitzer deshalb gleich den Begriff „Digitale Demenz“ einführen muss (steht ja eher für eine oft degenerative, schlussendlich tödliche Krankheit), sei dahingestellt. Ich bleibe bei „Amnesie“, das ist schon schlimm genug.

Was fehlt Kindern, die mit Computern aufwachsen? Was fehlt Kindern, die mit Computern aufwachsen?

Nebenbei - das Handy stört sowieso beim Nachdenken. Eine Studie der Florida State University zeigte, dass Probanden bei Tests eine dreifach höhere Fehlerquote hatten, wenn sie durch Benachrichtungsgeräusche oder den Vibrationsalarm abgelenkt waren, selbst wenn sie das Gerät nicht zur Hand nehmen durften. Eine andere Art der Ablenkung ist die Reizüberflutung. Ist man zu lange im Netz unterwegs und erhält das Gehirn zu viele Informationen, können kaum noch wichtige von unwichtigen Informationen getrennt werden, vieles landet komplett im geistigen Mülleimer. Praktisches Beispiel: Man möchte wissen, wann ein Film gedreht wurde und schaut bei Wikipedia. Die eigentliche Information bekommt man schnell, aber es gibt noch so vieles mehr zu erfahren. Hintergrundinformationen, welcher Schauspieler mitspielte, wie die Einspielergebnisse oder die Kritiken waren, alles steht bereit, man liest und liest. Später schließt man die Seite und ist froh, dass niemand nachfragt, was man gerade alles gelesen hat – oder aus welchem Jahr der Film stammt.

Die Kritik an Veränderungen dieser Art ist nicht neu. Schon Sokrates beschwerte sich bitterlich - über die Schrift. Er fürchtete, sie würde Menschen vergesslich machen. Wer müsse sich noch alles merken, wenn es doch geschrieben dastehe? Platon war das egal, er schrieb auch diese Klage nieder, nur so wissen wir heute davon. Die Wissenschaft weiß schlicht noch nicht, ob oder wie sich das menschliche Gehirn mit der Internetnutzung verändert. Man nimmt es an, da sich das Gehirn den Anforderungen anpasst, aber definitive Aussagen blieben bislang aus.

Einige Forscher argumentieren auch, mit dem Internet sei die Fülle an Informationen so groß geworden, dass sich der menschliche Geist auf das konzentriere, was zur Erkenntnis nützlich oder emotional besonders besetzt sei – und da gehörten Telefonnummern halt nicht zu. Das Gehirn sei eher darum bemüht, die Flut an Bildern und Texten zu verarbeiten und nehme die digitale Gedächtnishilfe deshalb dankbar an. Das Hirn sei also nicht faul, sondern halt anders beschäftigt. Ich bin jedenfalls gespannt, welche Erkenntnisse die Wissenschaft uns zu dem Thema noch bringen wird und habe mir vorgenommen, ein paar neue Gedichte auswendig zu lernen. Hoffentlich kann ich das noch!

Was mich interessieren würde: Wären Sie auch ohne Handy, Computer und Co aufgeschmissen? Wie sehr würden Sie die modernen Helferlein im Alltag vermissen?

P.S.: Dieser Text wäre ohne die Anregung eines Lesers nicht entstanden, vielen Dank dafür. Die Redaktion entschwindet in eine kurze Sommerpause und wünscht Ihnen eine wunderbare Zeit!

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