Die Gefahren des schönen Scheins
Kürzlich drückte man mir ein neues Handy zum Testen in die Hand. Nachdem ich ein paar Funktionen durchgeklickt hatte, öffnete ich die vordere Kamera und machte ein Selfie. Was ich sah, konnte ich zuerst kaum einordnen. Ein Milchbrötchen mit Augen trifft es wohl am besten. War das Ding kaputt? Hatte ein Kollege spaßeshalber Butter auf der Linse verteilt? Nein, es war standardmäßig der Beauty-Filter angeschaltet. Wollte ich das? Nein. Sehe ich als nebulöse Gestalt besser aus? Vielleicht zu Halloween. Aber hinter all dem steckt ein größeres Problem.
Wenn eine solche Funktion schon standardmäßig aktiviert ist, geht der Hersteller davon aus, dass die meisten Nutzer sie sowieso aktivieren würden. Und damit liegt er richtig. Ein kurzer Blick in die Download-Charts der App-Stores zum Thema Beauty zeigt: Apps mit Schönheitsfunktionen sind auf Milliarden Handys vertreten. Dabei werden nicht nur Pickel retuschiert, vom Doppelkinn bis zur kompletten Gesichtsform kann alles editiert werden. Andere Software widmet sich eher dem Körper und macht in Industrienationen wohl im Regelfall aus etwas mehr etwas weniger oder fügt an den richtigen Stellen ein paar Kurven hinzu. Manche Werbetexte sind schmerzlich deutlich: „Endlich kannst Du so sein, wie Du es schon immer wolltest!“ Jedenfalls auf ein paar Pixeln, die sind ja geduldig, die Realität bleibt unverändert.
Ein Freund rief mich an, er hatte Redebedarf. Über die Kontaktbörse Tinder hatte er eine junge Dame aufgetan und wollte sich mit ihr am Bahnhof treffen. Er gab zu, dass seine im Portal eingestellten Bilder sehr gut getroffen und leicht bearbeitet waren. Er schickte sie mir zum Beweis, ich würde sie als sehr schmeichelhaft, aber halbwegs realistisch einordnen. Als sie sich dann am Bahnhof trafen, gab es ein Problem, sie erkannten sich schlicht nicht. Erst ein Anruf brachte Aufklärung – und Ernüchterung. So endete der Abend auch eher schnell und gänzlich ohne romantische Note. Wenn aus dem markanten Casanova ein normaler Büroangestellter wird und die verführerische Prinzessin zum Mädchen von Nebenan, ist die Enttäuschung vorprogrammiert. Sie genügten nicht dem Bild, das sie vorher von sich gezeichnet hatten.
Erst mit entsprechenden Apps gelingt das Selfie perfekt
Was nach einer harmlosen Spinnerei der modernen Gesellschaft klingt, hat für die jüngere Generation z.T. fatale Folgen. Besonders in dem Lebensabschnitt, wo die eigenen Eltern zunehmend uncool erscheinen, orientieren sich Heranwachsende häufig an ihren Idolen aus den Medien. Doch der Druck wächst. Während frühere Idole durchaus ihre Problemzonen hatten, liegt die Latte heute höher. Was hartes körperliches Training plus Spezialdiät allein nicht schaffen, wird per Photoshop erledigt. Auch die Fotos der meisten Magazine werden erst vom Management freigegeben, bevor sie gedruckt werden oder online gehen. Die Ergebnisse dieser Bemühungen werden in Bildern und Videos bis ins Detail gezeigt, natürlich frei von Pölsterchen, Falten, Runzeln und sonstigen Makeln, hochauflösend bis 4K. Der Traum eines jeden Dermatologen.
So sind aber Menschen nicht. Sie werden nicht gecastet und entsprechen normalerweise nicht dem Erscheinungsbild von Supermodels. Und an dieser Kluft zerbrechen besonders Kinder und Jugendliche. Eine befreundete Therapeutin erzählte mir von den Auswirkungen, die das „digital Perfekte“ nach sich zieht. Zu ihr kommen täglich junge Menschen beiderlei Geschlechts, die hungern, wie besessen trainieren, sich morgens gegenseitig ihr Gewicht zurufen oder selbst verletzen, wenn sie ihren Anforderungen nicht genügen. Ebenso vertreten sind Grundschüler mit dem Wunsch nach Schönheits-OPs, stark geschminkte Zwölfjährige und kleine Jungen, die gerne Steroide für mehr Muskelwachstum hätten. Viele haben Bilder und Poster in Hochglanz Ihrer Stars bei sich und sehr detaillierte Vorstellungen, wie sie aussehen und wirken möchten. Und wir reden hier nicht von Hollywood, diese Kinder leben in einer deutschen Großstadt. Ich gebe zu, das habe ich vorher nicht gewusst.
Posieren wie die Erwachsenen
Der Wahn um die angebliche Perfektion ist so groß, dass es ein eigenes Genre von Zeitschriften gibt, in dem unretouchierte Fotos der Stars gezeigt werden. Jede Falte, jedes Gramm zu viel und jede Cellulite wird hier abgefeiert, etwas Linderung für geschundene Seelen. Doch langsam scheint sich etwas zu ändern. Die ersten Makeup-Firmen versuchen mit ungeschönten Bildern ihr Glück und Pädagogen plädieren für Warnhinweise á la „Vorsicht, dieses Foto wurde digital verändert und entspricht nicht der Wahrheit“ oder ähnliche Aufklärungstexte. Bis Derartiges umgesetzt wird, werden noch viele Bilder voll künstlicher Perfektion erscheinen. Ich schalte den Beauty-Filter des Test-Handys ab, habe wieder Falten, bin wieder Mitte 40 und sehe aus wie ein Mensch, nicht wie ein glattes Etwas. So soll es sein.
Was mich interessieren würde: Würden Sie Warnhinweise auf manipulierten Bilder befürworten? Oder muss unsere Gesellschaft besser lernen, mit dem schönen Schein umzugehen?