Wie süchtig sind wir nach dem Internet?
Kürzlich haben wir in einer frohen Runde einen Film geschaut. Zwölf Menschen um die Vierzig aus allen möglichen Berufsgruppen kamen zusammen, um sich einen klassischen italienischen Gruselfilm anzuschauen. Mit Knabbersachen, massig Getränken und gemütlichen Sitzgelegenheiten für alle ausgestattet ging es gemütlich los. Für mich war es mehr als ein netter Video-Abend rund um „Suspiria“ (Gruselklassiker von 1977), es war auch ein kleines Experiment. 90 Minuten Konzentration auf einen Bildschirm, nur einer Handlung zu folgen, ist das in Zeiten des Internets noch möglich?
Schon beim Intro zuckten die ersten Hände zum Handy. WhatsApp-Nachrichten trudelten ein, Freunde und Verwandte berichteten von ihrer Abendgestaltung, spontane Einladungen oder Tipps zu Veranstaltungen gingen hin und her. Ein Babysitter verkündete, dass alles okay sei. Wo man schon mal am Gerät war, konnte man die Wetter-App noch mal bemühen. Der Vorspann mit Dario Argento als Regisseur sorgte nicht nur für eine gespannte Erwartungshaltung im Publikum, man googelte auch gleich, welche Filme er noch gedreht hatte. Facebook meldete sich mit den Terminen für den Sonntag, Fitness-Apps mit der Nachricht, dass man noch 2000 Schritte machen müsse, um auf die „goldenen 10000“ zu kommen.
Auftritt Udo Kier, ein profilierter, deutscher Filmbösewicht erschien mit leicht dämonischer Mimik. Woher kannte man den nochmal? Google half weiter. Bei Gott, hatte dieser Mann viele Filme gedreht! Der Soundtrack gefiel, kam manchen irgendwie auch bekannt vor, eine weitere Suche. Dann ein Profi-Kommentar von rechts, dass man den Film anders kenne, war diese Version etwa geschnitten? Schnelle Recherche: Nichts geschnitten, Limited Collector's Edition Uncut, wohliges Seufzen vom fachkundigen Publikum. Als der Film richtig in Gang kam, wurden die Gespräche weniger, mit der Spannung erlahmte der Griff zum Handy deutlich, irgendwann war es auch egal, ob man die Hauptdarstellerin wirklich kannte oder wo der Film eigentlich gedreht wurde. Die Magie eines guten Films wirkte noch immer, auch wenn viele es mittlerweile gewohnt sind, mit einem vielfältigen, konstanten Strom aus Informationen und Unterhaltung versorgt zu werden.
Obwohl er durchaus gelungen war, ließ mich der Abend etwas nachdenklich zurück. Sind wir (oder viele von uns) schon komplett Internetsüchtig? Kurz nach Filmende ging der Griff bei vielen vollautomatisch sofort zurück zum Smartphone. Eine kleine Umfrage unter Freunden ergab auch, dass sich viele mit dem Handy wecken lassen, ein kurzer Blick über persönliche oder Welt-Nachrichten erfolgt dann, bevor der erste Fuß auf den Boden gesetzt wird. Manches Frühstück wird schon von YouTube bestimmt. Tipps zum Wachwerden, zur vernünftigen Ernährung oder für das bessere Funktionieren im Job gibt es zuhauf, 10 Minuten Schnell-Meditationen obendrauf. Dazu noch schnell die Tore vom Spiel gestern sehen oder ein Blick auf Facebook, Twitter oder Instagram, bevor es zur Arbeit geht. In vielen Jobs geht es dort munter weiter, das Handy meldet sich mit Versandnachrichten der Internetbestellungen, zudem kann man immer schnell schauen, wann der Hausarzt Sprechstunde hat, der heiß erwartete Film im Kino anläuft oder welche Bilder Tante Trude von ihrem Ausflug in die Lüneburger Heide gesendet hat.
Wer viele Apps hat, wird massiv mit Push-Benachrichtung bombardiert. Günstiges Tanken, die neusten Angebote vom Supermarkt um die Ecke, kurze Gymnastik-Tipps, das tägliche Horoskop oder der einfache Hinweis, mehr zu trinken, erfordern immer neue Aufmerksamkeit. In vielen Jobs gehen noch abends oder am Wochenenden Informationen hin und her, das klassische „raus aus dem Büro und bis zum nächsten Morgen nicht mehr daran denken“, ist für viele kaum vorstellbar. Kommt man nach Hause, warten schon die sozialen Medien, YouTube und natürlich die großen Streaming-Dienste. Hier wird konstant an neuer Unterhaltung und Information gearbeitet. Hat man deren Apps installiert, bekommt man maßgeschneiderte Programmtips gleich aufs Handy gesendet. Man könnte ja etwas verpassen!
Und genau dieses Gefühl, etwas verpassen zu können, ob es nun Informationen sind oder reines Entertainment sind, setzt viele Menschen dauerhaft unter Strom. Deutsche schauen im Durchschnitt ca. 90-mal auf Ihr Handy, bei einem 16-Stundentag wäre das grob alle zehn Minuten. Hersteller arbeiten fieberhaft an Akkus, mit denen man ganze Tage pausenlos am Handy verbringen kann - der Verbraucher will es so. Online zu sein, war früher exotisch, dann ein wachsender Trend, heute hat sich das Internet mitten in das Leben gefressen. Das beschränkt sich nicht auf die junge Generation, auch auf keine soziale Schicht und hat nur wenig mit der Bildung zu tun. Fällt mal das Internet großflächig aus, füllen sich soziale Medien mit Berichten zwischen Wut und Verzweiflung. Als hätte man die Verbindung zu Glück und Selbstverwirklichung gekappt, poltert ein bunter Durchschnitt der Bevölkerung herum und verlangt Wiedergutmachung für den bitter erlittenen Verlust.
Und gleichzeitig gibt es Menschen, die all das nicht mehr wollen. Die ersten Cafés entstehen, in denen Handys nicht mehr erwünscht sind. Zunehmend wird nicht nur für die Kinder die Internet-Nutzung reguliert, auch deren Eltern stellen freiwillig das WLAN ab. Die ersten Apps sorgen nicht nur für Ruhezeiten, in denen das Handy komplett Ruhe gibt, sondern rufen z.B. nur einmal am Tag die E-Mails ab. Freunde machen Spiele- oder Lese-Abende, in denen das Handy komplett ausgeschaltet auf dem Wohnzimmertisch ruht. Bei vielen setzt sich die Einsicht durch, dass man nicht jede E-Mail und jetzt WhatsApp-Nachricht unverzüglich beantworten muss. Auch die aktuellen News sind nicht nach einer halben Stunde verschwunden, man kann sie auch später lesen. Die Lektüre erfolgt dann, wenn Zeit und Muße da sind, was für diese Verweigerer der Moderne zentrale Begriffe sind. Die Lese-Ecke, wie Jüngere sie eher von den Großeltern kennen, erlebt ein Comeback und findet sich auch in sehr modernen Wohnungen. Sich ganz bewusst ein Buch (oder meinetwegen den E-Book-Reader) zu schnappen und ungestört zu lesen, zählt bei vielen wieder als besonders geschätzte Entspannungsform. Zurück zu den Wurzeln, wenn man so mag. So wird auch der nächste Filmabend (nach 11 zu 1 Stimmen) weitgehend Handy-frei werden. Babysitter-Anrufe sind erlaubt, der Rest an Kommunikation, Info und Entertainment wartet, bis die Party vorbei ist. Mal schauen, ob alle durchhalten!
Was mich interessieren würde: Wie stark hängen Sie am Internet? Ich mache mal den Anfang: Sehr, aber ich bin um Besserung bemüht. Wie sieht es bei Ihnen aus?